Über die Milde zu uns selbst
- Johanna König
- 7. Juli
- 5 Min. Lesezeit

Es gibt Tage, da hätte ich für meinen schlimmsten Feind wärmere Worte übrig als für mich selbst. Da gehe ich sehr hart mit mir ins Gericht und werde gnadenlos. Sogar fast erfinderisch, wenn es darum geht, noch einen Grund zu finden, weshalb ich mich ins negative Licht rücken könnte. Wenn ich das so aufschreibe, erschreckt mich das. Es ist mir immer leichtgefallen, die (vermeintlichen) Fehler anderer Menschen zu übersehen oder gar zu entschuldigen. Auch, wenn ich dadurch einen Nachteil erfahren habe und längst hätte für mich einstehen oder mich abgrenzen sollen. Beispielsweise habe ich oft beim Dating im Kontakt mit Männern, die mich schlecht behandelt haben, entschuldigend gedacht: „Er hatte eben eine schwierige Kindheit…“ und zeigte Verständnis für so ziemlich alles, über meine eigenen Grenzen hinweg. Doch was ist mit meiner eigenen Kindheit, meinen eigenen schwierigen Erfahrungen im Leben, all den Narben, die mich eigentlich milde stimmen sollten in Bezug auf mich selbst? Die zählen dann plötzlich nicht, werden abgetan, als wären sie irrelevant für das Urteil, das ich über mich fälle. Die Nachsicht, die ich anderen so großzügig schenke, bleibt mir selbst verwehrt, und die Messlatte für mein eigenes Sein scheint unerreichbar hoch.
Kennst du das auch? Warum fällt es uns oft so schwer, milde mit uns zu sein?
Dabei ist allein das Wort an sich ein so schönes. Milde. Es klingt leicht und zart und verspricht Sanftheit, Nachsicht, Güte. Warum also laden wir die Milde nicht öfter in unser Leben ein, vor allem die Milde uns selbst gegenüber?
Der psychologische Hintergrund: Selbstmitgefühl
Was uns hierbei oft im Weg steht, ist unser innerer Kritiker, der unerbittlich über uns wacht und uns bei jedem vermeintlichen Fehltritt zur Rechenschaft zieht. Der psychologische Begriff, der die Milde uns selbst gegenüber am besten beschreibt, ist das Selbstmitgefühl. Hier geht darum, uns selbst mit der gleichen Freundlichkeit und Fürsorge zu begegnen, die wir einem guten Freund entgegenbringen würden, der gerade leidet oder einen Fehler gemacht hat. Nach Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung, die das Konzept lange erforscht hat, besteht Selbstmitgefühl aus drei Säulen:
Freundlichkeit: Anstatt uns für unsere Unzulänglichkeiten zu verurteilen, begegnen wir uns selbst mit Freundlichkeit, Wärme und Verständnis. Hierbei geht es in erster Linie darum, wahrzunehmen, dass wir wieder einmal verurteilend mit uns selbst sprechen, und stattdessen verständnisvoll zu sein und uns zu trösten, gerade wenn wir einen Fehler gemacht haben.
Menschlichkeit: Diese Säule bedeutet, uns unsere eigene menschliche Zugehörigkeit bewusst zu machen, um nicht in Einsamkeit zu versinken. Wir sind nicht allein mit unserem Leid, unseren Fehlbarkeiten, unseren Selbstzweifeln. Anderen geht es auch so, allen Menschen geht es mal so. Und das kann tröstlich sein, weil es Verbundenheit schafft.
Achtsamkeit: Achtsamkeit ist eine starke Möglichkeit, innezuhalten, bevor unsere unbewussten automatischen Reaktionsmuster greifen. In der Regel fühlen wir nämlich Gefühle wie Scham, Schuld, Wut, Trauer oder Angst, bevor wir in die Selbstabwertung rutschen. Achtsamkeit schafft die Möglichkeit, eine Pause einzubauen und diese Gefühle wahrzunehmen, und mitfühlend darauf zu reagieren, anstatt uns fertigzumachen.
Wie uns mehr Milde uns selbst gegenüber gelingen kann
Die drei Säulen klingen einleuchtend und vielversprechend. Wenn es doch so einfach wäre. Ich zumindest merke, dass es mir oft schwerfällt, auf diese Weise mit mir umzugehen. Rational verstehe ich, dass ich mich nicht verurteilen sollte, und dennoch will es mir oft nicht gelingen, sanft mit mir zu sein. Unser innerer Kritiker ist zu laut, die Gewohnheit der Selbstkritik zu tief verwurzelt. Was gibt es also noch für Möglichkeiten?
Mein Ansatz ist der, die Milde über die Zeit hinweg zu kultivieren. Wir können unseren inneren Kritiker nicht einfach ausschalten. Was wir aber machen können, ist, die Milde uns selbst gegenüber wie einen kostbaren Garten zu kultivieren. Wie ein Beet, das man sorgsam anlegen und regelmäßig gießen muss. Vielleicht beginnst du erstmal mit einem kleinen Fleckchen Erde, wo du die Samen der Freundlichkeit und Menschlichkeit dir selbst gegenüber säst. Du pflegst sie, indem du kleine Momente der Selbstachtung einübst, dir kleine Fehler verzeihst, dich für kleine Erfolge anerkennst, und dir öfter vorstellst, dass es anderen Menschen auch so geht. Wenn du dich an verschiedenen Stellen im Kleinen darum kümmerst, wächst über die Zeit hinweg ein schöner Garten in dir heran, aus dem du schöpfen kannst, wenn der innere Kritiker mal wieder zuschlägt. Auch die Achtsamkeit wird dadurch Einzug in dein Leben halten, weil du regelmäßig spüren kannst, welche Gefühle damit einhergehen, wenn du dir bspw. einen Fehler verziehen hast: die Scham versiegt, und der Kritiker hat nichts mehr zu sagen.
Ein weiterer hilfreicher Gedanke ist: Möchte ich bis zum Ende meines Lebens diese Strenge mir selbst gegenüber haben? Es wird immer Gelegenheiten geben, uns zu verurteilen: Jede Entscheidung in unserem Leben, mit der wir nicht zufrieden waren, kann dem inneren Kritiker Futter geben. Wir sind täglich mit Anforderungen konfrontiert, die uns an uns zweifeln lassen, es wird ein permanentes Funktionieren und Optimieren von uns verlangt. Die beste Möglichkeit, ja fast Notwendigkeit, dem etwas entgegenzusetzen, kann nur allergrößte Milde uns selbst gegenüber sein. Sie ist nicht nur ein Schutzschild, sondern auch eine Kraftquelle, die uns hilft, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen und uns selbst mit all unseren Facetten anzunehmen.
Milde als Grundlage für Wachstum
Manchmal missverstehen wir Milde als Schwäche oder Nachlässigkeit. Doch das Gegenteil ist der Fall: Milde uns selbst gegenüber ist eine immense Stärke und die Grundlage für wahres Wachstum. Wenn wir uns selbst mit Freundlichkeit begegnen, schaffen wir einen sicheren inneren Raum, in dem wir Fehler als Lernchancen und nicht als Beweis unseres Scheiterns betrachten können. Ich muss sagen, dieser Perspektivwechsel war ein echter "Gamechanger" für mich. Und das ist auch der Bereich, der bei mir zur Zeit am besten funktioniert: Anstatt mich für einen Fehler abzuwerten, versuche ich, mir zu sagen: "Wieder was gelernt.", und sei es noch so eine Kleinigkeit. Und damit macht man letztlich automatisch das, worauf es im Leben ankommt: Es geht nicht darum, in allem zu glänzen, es geht darum, zu sein und dazuzulernen, jeden Tag, bis zum Schluss. Und lernen können wir nur, indem wir Fehler machen, uns daneben benehmen, uns täuschen, auf die Nase fallen, aus Versehen jemanden verletzen, falsch abbiegen oder nochmal ins alte Muster tappen.
Es geht nicht darum, in allem zu glänzen, es geht darum, zu sein und dazuzulernen, jeden Tag, bis zum Schluss.
Vor Kurzem habe ich das Buch "Die Mitternachtsbibliothek" von Matt Haig gelesen. In diesem Buch geht es um die Protagonistin Nora Seed, die viel Reue über ihr bisher gelebtes Leben empfindet und dabei hart mit sich ins Gericht geht. Nora erhält die Chance, in der Mitternachtsbibliothek in Bücher einzutauchen, die jeweils eine andere Version ihres Lebens darstellen, die sie hätte leben können. Für mich hat sich insbesondere eine Seite, ziemlich genau in der Mitte des Buches, eingeprägt. Sie beschreibt auf schöne Weise die Möglichkeit, sich selbst mit größtmöglicher Akzeptanz zu begegnen:
Nora hatte schon immer ein Problem damit gehabt, sich selber anzunehmen. Soweit sie sich zurückerinnerte, hatte sie immer das Gefühl gehabt, sie genüge nicht. Ihre Eltern, die beide ja selbst unsicher gewesen waren, hatten dieses Gefühl noch gefördert.
Jetzt stellte sie sich vor, wie es wäre, sich selbst vollkommen zu akzeptieren. Jeden Fehler, den sie je gemacht hatte. Jede Narbe auf ihrem Körper. Jeden Traum, den sie nicht verwirklicht, jeden Schmerz, den sie empfunden hatte. Jede Lust, jede Sehnsucht, die sie unterdrückt hatte.
Sie stellte sich vor, all dies zu akzeptieren. So wie sie die Natur akzeptierte. So wie sie einen Gletscher, einen Papageientaucher oder einen aus dem Meer auftauchenden Wal akzeptierte.
Sie stellte sich vor, sie sähe sich selbst als eine der vielen fantastischen Launen der Natur. Als eins der vielen empfindungsfähigen Tiere, die ihr Bestes versuchten.
Und sie stellte sich vor, wie es wäre, frei zu sein.
(Haig, Die Mitternachtsbibliothek, 2021, S. 165)
Wie wäre es, wenn wir uns selbst öfter als fantastische Laune der Natur akzeptieren würden, als ein empfindungsfähiges Wesen, das sein Bestes versucht?
Johanna

