Wenn eine Frau reagiert. Oder: No one likes a mad woman
- Johanna König
- 10. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Juli

Kennst du das? Du bist wütend, traurig, frustriert – und plötzlich wird dir gesagt, du seist "zu emotional", machst "Drama" oder wirst für verrückt erklärt? Besonders Frauen* erleben immer wieder, wie ihre legitimen Reaktionen auf Grenzüberschreitungen oder Übergriffe falsch dargestellt werden. Ich möchte tiefer in genau dieses Phänomen eintauchen und frage mich: Darf eine Frau* überhaupt "ganz normal" reagieren?
Fight, flight, freeze: Nicht, wenn du eine Frau* bist
Warum ist diese Frage so relevant? Weil Frauen* in unserer Gesellschaft grundlegende menschliche Reaktionen abgesprochen werden. Im Angesicht von Gefahr kennen wir die berühmten "3F": Fight, Flight oder Freeze. Diese Schutzmechanismen sind tief in unserem Nervensystem verankert. Fühlen wir uns bedroht oder werden angegriffen, schaltet unser System sofort auf Alarm, um unser Überleben zu sichern: Wir kämpfen ("Fight"), flüchten ("Flight") oder erstarren ("Freeze"). Doch während diese urinstinktiven Reaktionen, die unserem Selbsterhalt dienen, bei den meisten Lebewesen akzeptiert werden, werden sie uns Frauen* systematisch abgesprochen.
Denn: Eine Frau*, die sich gegen einen Übergriff wehrt oder auf Grenzüberschreitungen mit Wut reagiert ("Fight"), wird nicht selten als aggressiv oder "hysterisch" bezeichnet. Die Interpretation, dass sie sich einfach nur gewehrt hat? Fehlanzeige. Im schlimmsten Fall begegnet ihr ihr Gegenüber auf diese Reaktion erst Recht mit Gewalt. Eine Frau*, die sich der Situation entzieht ("Flight"), muss damit rechnen, dass ihr Rückzug entweder nicht respektiert und ihr im schlimmsten Fall nachgestellt wird, oder ihr Verhalten als egoistisch abgestempelt wird. Auch eine Beleidigung ist nicht selten die Folge auf eine Rückzugsreaktion. Selbst die "Freeze"-Reaktion bekommt bei Frauen* kaum Legitimation, da heißt es dann: "Warum hat sie sich denn nicht gewehrt?" Uff. Diese Ungerechtigkeit muss man erst einmal sacken lassen. Jede natürliche Reaktion auf Gefahr, die uns als Menschen gegeben ist, wird bei Frauen* abgewertet.
Genau diesen Aspekt greift Taylor Swift in ihrem Song "Mad Woman" auf. Sie singt:
"What did you think I'd say to that?
Does a scorpion sting when fighting back?
They strike to kill, and you know I will
You know I will"
"And there's nothing like a mad woman
What a shame she went mad
No one likes a mad woman
You made her like that
And you'll poke that bear 'til her claws come out
And you find something to wrap your noose around
And there's nothing like a mad woman"
(Taylor Swift, "Mad Woman", Album: folklore, 2020)
Taylor Swift singt von einer Frau, die für ihre Wut und ihren Schmerz verurteilt wird, obwohl diese Gefühle eine verständliche Reaktion auf erlittenes Unrecht sind. Sie zieht die Parallele zu einem Tier (Skorpion, Bär), das in die Enge getrieben wird und sich wehrt – ein Urinstinkt, der uns allen innewohnt. Doch während die Reaktion eines Tieres auf eine Bedrohung als legitim angesehen wird, wird die gleiche Verteidigung bei Frauen* pathologisiert (sprich: als krankhaft dargestellt) oder abgewertet.
Die Reaktion aus psychologischer Sicht
In der Psychologie ist eine Reaktion die unmittelbare Antwort eines Organismus auf einen Reiz oder eine Situation. Im Kontext von Grenzüberschreitungen und Übergriffigkeiten ist eine Reaktion oft eine Form der Selbstschutzstrategie.
Wir reagieren auf verschiedenen Ebenen:
Emotional: Das sind unsere Gefühle wie Wut, Angst oder Ekel. Sie sind oft die ersten Anzeichen, dass eine Grenze überschritten wurde.
Kognitiv: Hier geht es darum, wie wir die Situation gedanklich verarbeiten und bewerten. Wir versuchen zu verstehen, was passiert ist, und ordnen es für uns ein.
Physiologisch: Unser Körper reagiert ebenfalls, zum Beispiel mit Herzrasen, Anspannung oder der Bereitstellung von Energie.
Verhaltensbezogen: Das sind die Handlungen, die wir zeigen – etwa das Setzen von Grenzen, der Rückzug aus einer unangenehmen Situation oder das Suchen von Unterstützung.
Eine unmittelbare Reaktion ist nicht willentlich gesteuert, sondern eine oft unbewusste Antwort auf einen Reiz. Sie entspringt unserem Innersten und dient unserem Schutz und unserer Integrität. Was aus psychologischer Sicht also eine normale, gesunde Reaktion auf eine Bedrohung ist, wird Frauen* allzu oft als Fehl- oder gar krankhaftem Verhalten ausgelegt.
Warum Reaktionen von Frauen abgewertet werden
Dass die Reaktionen von Frauen* keine Legitimation im Außen finden, ist kein Zufall, sondern tief im Patriarchat und dessen Machtansprüchen verankert. Im Kern geht es durch die Entwertung und Pathologisierung der Reaktionen darum, bestehende Machtverhältnisse und Hierarchien aufrechtzuerhalten und unbequeme Veränderungen zu vermeiden. Wenn Frauen* das Recht auf ihre Wut, ihre Verteidigung oder ihren Rückzug abgesprochen wird, werden sie systematisch entmachtet. Dies sichert die Komfortzone und Kontrolle derjenigen, die von den bestehenden Verhältnissen profitieren. Würden die entsprechenden Reaktionen von Frauen* als legitim und berechtigt anerkannt, müsste man sich der Tatsache stellen, dass tatsächlich ein Problem existiert und dass möglicherweise grenzüberschreitende Männer* ihr eigenes Verhalten grundlegend infrage stellen müssten.
Von Frauen* wird gesellschaftlich erwartet, dass sie sanftmütig, freundlich und nachgiebig sind. Eine Frau*, die ihre gerechtfertigte Wut zeigt, widerspricht diesen Erwartungen. Ihre Reaktion wird dann als "Fehlverhalten" interpretiert und negativ bewertet. Es ist nicht zu unterschätzen, welche Macht diese Stereotype nach wie vor haben. Denn, wie Taylor Swift so treffend singt: "No one likes a mad woman". Und: Wer will schon nicht gemocht werden?
Wenn Frauen* nach einer Grenzüberschreitung gesagt wird, ihre Reaktion sei übertrieben oder verrückt, handelt es sich um eine manipulative Taktik, die als Gaslighting bekannt ist. Ziel ist es, die Realität und die Gefühle einer Frau* in Frage zu stellen und sie dazu zu bringen, an ihrem eigenen Verstand und ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Dies entzieht ihr jegliche Grundlage für eine selbstbestimmte Reaktion sowie eine Wiederherstellung von Augenhöhe.
Diese Art von Manipulation ist umso leichter umsetzbar, je weniger Frauen* offen über ihre Erfahrungen sprechen. Denn: Eine Frau* hat im Zuge ihrer Sozialisation gelernt, im Beziehungskontext stets die Wogen zu glätten und die Schuld auf sich zu nehmen. Sie wird ihrem Gegenüber also Glauben schenken und ihre eigene Reaktion für übertrieben halten. Deshalb ist es so wichtig, sich zu diesen Erfahrungen auszutauschen und sich das Recht auf die eigene Reaktion zurückzuerobern. Oder wie Taylor Swift es in ihrem Song an anderer Stelle ausdrückt: "Every time you call me crazy, I get more crazy".
Männer* können aktiv zu einer Veränderung beitragen, indem sie die Reaktionen anerkennen und validieren, anstatt sie abzutun. Es bedeutet auch, patriarchale Normen und Rollenbilder zu hinterfragen, die zur Entwertung weiblicher* Gefühle führen.
Dein Recht auf Reaktion
Was macht das langfristig mit einem Menschen, wenn man nicht frei reagieren kann, obwohl alles in einem danach schreit? Was macht das mit einer Psyche?
In einer ehemaligen Beziehung habe ich die Erfahrung gemacht, dass meine Reaktionen auf massive Grenzüberschreitungen pathologisiert oder belächelt worden sind. Die Ohnmacht, die eine Frau* hierbei empfindet, ist einer der schwierigsten Gefühlszustände, die man sich vorstellen kann. Man spürt ganz genau: "Diese Reaktion war mein gutes Recht.", läuft damit aber ins Leere und wird noch weiter verletzt. Ich bin beinahe daran verzweifelt, ein Ventil für diese Ohnmacht zu finden. Für mich ist das Ventil letztlich meine Arbeit geworden, mit der ich - im besten Fall - andere Frauen* dabei unterstützen kann, ihr Ventil zu entdecken, zu ihren gerechtfertigten Reaktionen zurückzufinden und für sich einzustehen.
Wie könnte dein Ventil aussehen?
Es ist mir ein großes Anliegen, Frauen* zum freien Reagieren zu ermutigen, und dennoch kenne ich die Grenzen, die uns das Patriarchat auferlegt. Solange wir das bestehende Machtungleichgewicht haben, verstehe ich jede Frau*, die ihre Reaktion sorgsam abwägt und ggf. sogar abwürgt. Dennoch möchte ich hoffnungsvoll bleiben. Und so lange Taylor mich als Hintergrundmusik in meinem Leben begleitet, klappt das auch ganz gut mit dem Hoffen.
Johanna

